Zwischen brüchigen Lieferketten und neuer Wertschätzung für die Logistik
Spätestens seit März 2020 leben wir in einer Welt, die von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz (VUKA) geprägt ist. Unternehmen und Endkonsument:innen müssen sich auf eine neue Normalität einstellen, das Verhältnis zwischen Verladern und Logistikdienstleistern hat sich fast vollständig gedreht und statt just in time zählt heute mehr und mehr „just in case“. Beim Logistics Summit 2022 haben wir spannende Antworten auf die Fragen und Herausforderungen der Zukunft erlebt. Darunter: der Fokus auf verstärkte Zusammenarbeit entlang der Lieferkette, maximale Transparenz durch Digitalisierung und nicht zuletzt intelligentere IT-Systeme, die den Menschen bei den neuen Aufgaben bestmöglich entlasten.
„Wir leben in einer permanenten VUKA-Welt“, so Matthias Hülsmann von Robert Bosch auf dem hochkarätig besetzten Logistikleiter-Panel des Logistics Summit 2022. Doch was bedeutet das konkret für Unternehmen? Kurz gesagt: Ständig fehlt irgendwas: Materialien, Rohstoffe, Kapazitäten, Fachkräfte, Frachtraum und schon bald vielleicht auch noch Energie.
Insbesondere der Mangel an LKW-Fahrer:innen ist es, der der Logistikwelt heute und in Zukunft zu schaffen macht. Dies führt seit der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krise zu einem stagnierenden oder sogar sinkenden Angebot an Frachtraum. Ablesen lässt sich dies unter anderem an den Eingaben von LKW-Kapazitäten in die Fracht- und Laderaumbörse von Timocom. Gerade in Deutschland ist der Trend klar erkennbar – und schwerwiegend: Im Schnitt wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 2022 24 Prozent weniger Kapazitäten eingestellt als im Vorjahr!
Ein weiteres Problem, das angesichts der andauernden Ausnahmesituation – oder auch der neuen Normalität – teuer zu stehen kommt: Fünf von fünf Logistikleiter auf besagtem Panel – teils von global agierenden Unternehmen – müssen zugeben, ihre Lieferketten seien weitgehend noch nicht digitalisiert!
Das führt in unserer globalisierten Welt zu Intransparenz, immensen Kommunikationsaufwänden zwischen Supply-Chain-Partnern – und immer wieder verspäteten Lieferungen. Hülsmann: „Wir sind in der internationalen Arbeitsteilung einen Schritt zu weit gegangen. Wir müssen wieder auf ein vernünftiges Maß zurück.“
Von der Lieferkette zum Liefernetzwerk
Doch wo führen die vielfache beschworenen alternativen Lieferketten in Zeiten der großen und weltweiten Abhängigkeit von chinesischen Produktionsstätten entlang? Hier schieden sich die Geister beim Logistics Summit. So meinte Wolfram Senger-Weiss, CEO Gebrüder Weiss, zum Thema: „Wir dürfen in Nearshoring nicht zu viel hineininterpretieren. Die Logistikkosten und Frachtkosten sinken zwar wieder, aber dafür sind die Rohstoffpreise gestiegen.“ Auch Dr. Wolfraum Hauff von Kärcher betonte: „Der Blick nur auf die Verkehrsträger springt zu kurz. Wir haben von China zu viel gefordert und werden den Mangel an Elektronikkomponenten so schnell nicht lösen können.“
Die Herausforderung: Lieferketten sind heute längst keine Lieferketten mehr. „Eine Supply Chain ist ein Netzwerk“, sagte Olga Winterhoff von abat in ihrer Masterclass am ersten Tag des Logistics Summit. Eine These, die leogistics schon seit langem vertritt und auf deren Grundlage große Teile der hauseigenen Process-as-a-Service-Plattform entstanden sind. Ziel dieser war es nämlich, mittels Tracking & Tracing in der Cloud mehr Transparenz über zulaufende Transporte zu schaffen.
Neben Nearshoring eine weitere Möglichkeit, diese gewachsenen und vielfach verzweigten Supply Chain Networks zu entwirren, wäre es, die schier unermessliche Produktvielfalt beispielsweise im Supermarkt zu reduzieren. Müssten weniger Waren für die Verbraucher:innen vorgehalten werden, so müsste auch weniger transportiert werden. Aber die Konsument:innen wollten dies gar nicht, so Winterhoff.
Welche Lösungen bleiben nun? Bei einer Antwort ist man sich auf dem Logistics Summit 2022 grundsätzlich einig: Unternehmen müssen sich und ihre Lieferketten darauf einstellen, resilienter zu werden. Dazu bedarf es dringend mehr Digitalisierung und besserer IT-Systeme. Denn was benötigt wird, sind vor allem mehr Transparenz und Kontrolle darüber, wo sich Transporte und Lieferungen gerade befinden.
„Daten und Transparenz schaffen den nötigen Spielraum, alternative Handlungsmöglichkeiten zu ergreifen“, so Stephan Böhler von Flexport. „Wenn wir mithilfe von Daten Transparenz schaffen, dann können wir auch die nachgelagerten Prozesse wieder präzise planen.“
Tabea Klang von DB Cargo ergänzt: „Transparenz ist vor allem Vertrauen. Wenn wir das dem Kunden geben können durch Transparenz oder andere Maßnahmen, dann haben wir es geschafft.“ Wer mithilfe intelligenter Systeme Daten richtig nutzt und daraus Erkenntnisse gewinnt, kann auf dieser Grundlage bessere betriebswirtschaftliche Entscheidungen treffen, so das Motto.
Doch eine neue IT-Lösung allein macht noch kein smartes und resilientes Supply Chain Network. Hierfür bedarf es auch geschulter Fachkräfte, die wissen, was sie tun – und dafür vor allem auch die nötige Zeit und Ruhe haben. Die neuen Systeme müssen also vor allem eines leisten: die Mitarbeiter:innen durch leicht verständliche Oberflächen auf die wichtigsten Aufgaben hinweisen, weniger relevante To-dos nach unten priorisieren und die richtigen Informationen zum richtigen Zeitpunkt bereitstellen.
Nur so sinkt der Mental Load bei Logistiker:innen, sodass sie sich wieder auf ihre Kernaufgabe konzentrieren können: die reibungslose Planung von logistischen Prozessen. Hier gilt es, in Zukunft mithilfe zukunftweisenden User Interfaces und Künstlicher Intelligenz ein neues und besseres Nutzererlebnis zu schaffen als bisher üblich, um den Herausforderungen am Markt gerecht zu werden.
Vom Einkäufer- zum Verkäufermarkt? Die Zusammenarbeit zwischen Verladern und Dienstleistern im Wandel
Niedrigwasser, Fahrer:innen-Mangel, Energiekrise, Preissteigerungen – die Unwägbarkeiten am heutigen Transportmarkt sind riesig. „Die Welt ist heute anders als damals. Ein Zurück zu vor der Pandemie wird es nicht geben. Aber: Wir sind auf diesem Weg näher zusammengewachsen, gemeinsam Lösungen zu finden“, so abermals Senger-Weiss.
Dabei war das Verhältnis zwischen Verladern und Logistikdienstleistern nicht immer so harmonisch. Bis vor kurzem war die Beziehung häufig von hohem Preisdruck zu Lasten der Auftragnehmer geprägt. So konnten sich Frachteinkäufer:innen bislang häufig den Spediteur mit dem günstigsten Preis aussuchen. Heute hat sich das Blatt gewendet: Die Lieferketten sind brüchig, der Mangel an LKW-Fahrer:innen enorm, der Frachtraum daher knapp. „Laderaum geht vor Preis“, fasst Alexander Hagemeier von Weidmüller die Situation prägnant zusammen.
Vor diesem Hintergrund hat zumindest auf dem Verlader-Panel des Logistics Summit 2022 offenbar ein deutlicher Sinneswandel stattgefunden: Alle fünf prominenten Frachtenkäufer:innen sind sich einig: Ohne mehr und bessere Zusammenarbeit mit ihren Spediteuren wird es künftig nicht mehr gehen. Manfred Himmelbach von Avista Oil bringt diesen Paradigmenwechsel auf den Punkt: „Mehr Zusammenarbeit wagen mit den Logistikdienstleistern, das stößt heute auf breite Akzeptanz.“
Michael Donalies von der Flensburger Brauerei saß zwar auf dem Logistikleiter-Panel, stieß aber ins selbe Horn und betonte vor allem die wirtschaftliche Komponente: „Die Zusammenarbeit mit Dienstleistern wird immer wichtiger. Es geht nicht mehr darum, für sich selbst den größten Profit herauszuschlagen, sondern darum, gemeinsam zum Ziel zu kommen.“
Dieses eher partnerschaftliche denn dienstleistungsgetriebene Verhältnis bezieht sich nur auf den Preis für den knappen Frachtraum, sondern insbesondere auch auf die zeitliche Dauer der Beziehung: So ergänzt Martin Frosch von REHAU Industries: „Wir streben langjährige Partnerschaften mit Logistikdienstleistern an, weil das Onboarding der LDL zu lange dauert und zu aufwändig ist.“
Doch damit nicht genug: In der neuen Normalität geht es nicht nur darum, langfristige Beziehungen zu pflegen, sondern auch, Herausforderungen von heute und morgen gemeinsam zu bewältigen. „Wir legen den Fokus darauf, uns gemeinsam mit unseren Spediteuren weiterzuentwickeln und honorieren die Bereitschaft, mit uns in die Zukunft zu gehen. Es geht nicht, uns nur selbst zu optimieren, sondern wir müssen unsere Partner bei dieser Optimierung mitnehmen“, erläuterte Dörte Maltzahn von Knauf den neuen Ansatz, der da lauten könnte: Bessere Zusammenarbeit in der Supply Chain löst die vielfältigen Probleme der modernen Welt.
Logistik erfährt ungeahnte Wertschätzung
Doch bei all den Krisen gibt es auch etwas Positives zu berichten: Durch all die Lieferschwierigkeiten, Rohstoffknappheiten und Wartezeiten rückt die Logistik mehr in den Fokus und die Menschen, die dahinterstehen, erfahren eine völlig neue Art von Wertschätzung: „Früher war Logistik ein Kostenpunkt. Da wurde am Jahresende für Marketing und Vertrieb applaudiert. Heute wird stattdessen für die Logistik applaudiert“, sagt Christian Müller von DEHN. Roland Lazina von tesa kann hier nur zustimmen: „Wir hatten noch nie so viel Aufmerksamkeit im Unternehmen für die Logistik wie heute.“ Kurz: Die Logistik ist im Vergleich zu vor drei Jahren zu einem wesentlichen Teil der Wertschöpfungskette geworden.
Was sind die Zukunftstrends?
Doch was macht die Logistikwelt nun aus diesem neuen Respekt, den sie erfährt? Wie wird sie sich bis 2030 weiter wandeln? Was sind die Zukunftstrends? Der Logistics Summit 2022 gab unter anderem die folgenden Antworten:
- Harmonisierung von IT: Insellösungen unter einen Hut bringen, um bessere betriebswirtschaftliche Entscheidungen zu ermöglichen
- Mehr Transparenz und Resilienz entlang der Lieferkette durch Supply Chain Control Tower-Ansätze
- Local for Local – dort produzieren, wo Endkonsumt:innen die Produkte benötigen – und wo das Personal dafür vorhanden ist
- Von Just-in-Time zu Just-in-Case: Lieber besser planen als aus Kostengründen knappste Timings zu halten
- Nachhaltige Lieferketten – ressourcenschonend und CO2-neutral
- Mitarbeiter richtig qualifizieren und halten – nicht zuletzt, um neue Technologien beherrschen zu können